Meine Beziehung zu Kleidungsstücken. Ein historischer Abriss.

Meine Freundin Ninia moderiert seit einer Weile eine Fashion-Sendung, und ich bin gerade dabei, Leggings mit Feuerwerksprint und andere lustige Kleidungsstücke (hauptsächlich wärmende und regensichere, aber das ist eine andere Geschichte) fürs Fusion Festival in meinem Rucksack zu verstauen. Grund genug, sich mal ein bisschen mit dem Thema Mode zu beschäftigen.

Ich mag Mode. Streifzüge durch Second-Hand-Läden machen mich glücklich. Obwohl ich nicht unbedingt die Ahnung habe, was in welcher Saison wie doll angesagt ist, liebe ich das Herumprobieren, die Kombination unmöglicher Teile und Muster und gelebte bzw. getragene Hommagen an vergangene Jahrzehnte.

Das war nicht immer so. Bis vor ungefähr sechs Jahren machte ich einen großen Bogen um die gesamte Thematik. Und das, obwohl alte Fotos sowie meine Eltern mir einen äußerst eigenwilligen Kleidungsstil in frühester Kindheit bestätigen. Die 90er kamen damals bereichernd hinzu, und so trug ich mit Vorliebe knallbunte Leggings, Spitzenkragen, Lackschuhe, halluzinogene Muster und posierte vorm Spiegel. Der Zustand endete, als ich etwa 10 Jahre jung war; von da an überzeugte ich mich und mein Umfeld deutlich davon, dass ich Kleidung, Shopping und dieses ganze Gedöhns fürchterlich abstoßend fand. Als Teenager trug ich Jeans, Hemden und Chucks, benutzte allenfalls mal einen Kajalstift oder eine Haarbürste. Ein Kleid, Nagellack oder gar eine Frisur? Völlig undenkbar.

 

(Wie sehr ich mir diese Leggings in angemessener Größe wünsche.)

 

In der ländlichen Gegend, in der ich aufwuchs, war es so, dass sich Mädchen für Shopping und Jungs für Fußball begeisterten. Und anhand jener „geschlechtsspezifischen“ Hobbys wurde schnell mal auf den Charakter geschlossen: Jungs waren stark und sportlich, Mädchen hingegen oberflächlich und ihre Hobbys unwichtig und hohl. Im Internet kannte ich mich noch nicht aus (und dessen Geschwindigkeit war ohnehin katastrophal), und so beschränkten sich meine Einflüsse auf das kleine Städtchen, in dem ich zur Schule ging, die Inhalte diverser „Mädchenzeitschriften“ und irgendwann später auf Sendungen wie O.C., California. Vermittelt wurde mir: sei bitte ein „typisches“ Mädchen! Interessiere dich für Styling und Mode! Oh, aber erlaubt sind nur Stöckelschuhe, winzige Handtäschchen, tief ausgeschnittene Tops, knallenge Hüfthosen, Jeans-Miniröcke mit Strasssteinchen dran und sowieso Strasssteinchen. Ungern gesehen hingegen „männlich“ konnotierte Kleidung.

Lookism war mir damals noch fremd, und so schlussfolgerte ich überzeugt von diesen Stereotypen pubertär-dramatisierend: Wenn ich etwas anziehe, das annähernd wie ein Rock/Kleid/also weiblich aussieht, bin ich automatisch eine Tussi, muss Lipgloss tragen und kichern, denn so gehört es sich für das „typische Mädchen“. Wenn ich allerdings Schlabber-Shirts, weite Hosen und Turnschuhe trage, bin ich ein – na, was kommt jetzt wohl, welcher Unbegriff wurde hier noch nicht verwendet – richtig, ein Mannsweib. Dazwischen? Nix. Ich hatte mich gefälligst zu entscheiden, und hierbei bedeutete Entscheiden, dass ich mich doch bitte der mir zugewiesenen Rolle fügte: Her mit den Strasssteinchen, her mit dem Lipgloss, ab geht‘s zur Kirmes. Ich probierte das aus. Ich trug sogar so eine unglaublich überflüssige Minitasche in Lederoptik, wie sie um das Jahr 2002 aus unerklärlichen Gründen „trendy“ waren. Aber ich fühlte mich dabei unwohl bis furchtbar.

Mit diesem gesellschaftlich konstruierten Mädchenbild konnte und wollte ich mich nicht identifizieren. Ich entschied mich also gegen mein modisches Interesse und somit gegen die Schublade, die mit einer bestimmten Antwort auf die Frage nach dem Lieblingshobby quasi zugeknallt und abgeschlossen wurde. Ich kokettierte damit: Klamotten? Gar nicht mein Thema. Siehste, ich bin voll das untypische Mädchen! Ich trug also eher unauffällige Sachen und vermied, was die „Sugar“ und die „Bravo Girl“ mir zu teachen versuchten: Um aus deinem Schwarm endlich!!! deinen Boyfriend zu machen, musst du dir das hübsche Blümchenkleid anziehen, süß und zugleich ein kleines bisschen frech sein, außerdem müssen deine Lippen nach Erdbeere schmecken und deine 14jährigen Beine bitteschön schleunigst enthaart werden, sonst gehörst du halt nicht zum Club, sorry, und ach ja: bitte vergiss niemals die Strasssteinchen, okay, ohne die läuft nämlich sowieso gar nix.

Selbst mit dem Privileg des „Normal“-Gewichts gehörte man nicht zum Club, bedeutete es schließlich nicht nur, nicht übergewichtig, sondern genauso wenig untergewichtig zu sein. (Von der Absurdität dieser Begriffe will ich gar nicht anfangen – unter und über welchem Gewicht denn bitte, und überhaupt, „Normal“-Gewicht?!) Als ich 14 war, lief die erste Staffel Germanys Next Topmodel. Ich verfiel glücklicherweise nie in ein Extrem und wurde nicht krank, aber ich machte definitiv Diäten (und zwar sicher mehr als drei), ich joggte nicht nur um des Joggens willen durch den Wald und mein Körper war meistens zu irgendwas. Die Beine zu kurz, die Brüste lustigerweise erst zu klein und dann zu groß, die Haare zu glatt. So sehr ich mich auch bewusst abgrenzen wollte, natürlich machte es mir zu schaffen, dass – wenn ich sie denn tatsächlich hätte tragen wollen – die knallenge Hüftjeans an mir eben nicht so aussah, wie sie aussehen sollte. Dieses ominöse Normalgewicht war schließlich damals schon kein Ideal.

In meiner spätpubertären Hippiephase entschuldigte ich mein Desinteresse an „femininer Mode“ schließlich mit antikapitalistischer Haltung. Selbst zum Abiball (der zugegebenermaßen ohnehin nicht den Glamourfaktor zu bieten hatte, da er in einer dörflichen Mehrzweckhalle mit Spielfeldmarkierungen am Boden stattfand) kostete es mich Überwindung, ein Kleid anzuziehen, und als Ausgleich ließ ich mir die Haare hierfür sehr kurz schneiden, während meine Mitschülerinnen sich ausnahmslos komplizierte Hochsteckfrisuren zauberten.

Als ich nach Berlin zog und plötzlich nicht nur ein neues Umfeld, sondern auch sämtliche Geschäfte in der unmittelbaren Nachbarschaft hatte, fing ich allmählich an, mich wieder für Stoffe und Muster zu begeistern. Zunächst noch mit einer ordentlichen Portion Scham gespickt: Woah, find ich jetzt etwa Einkaufen gut? Klamotten? Seriously?

Denn obwohl mir mittlerweile bewusst war, dass die Kombination „Mode“ und „Cis-Frau“ nicht zwangsläufig den Strasssteinchen-Skandal bedeutete, hielt sich der bescheuerte Gedanke: Wenn ich mich nicht mit dem Rollenklischee „Mädchen“/“Frau“ identifizierte, dann konnte ich ja wohl nicht plötzlich anfangen, mir ihre Identifikationsmerkmale (=Interesse an Mode) anzueignen. Übersetzt: Wer den Mädelsabend mit Sekt (à la gesellschaftlich stereotypisiert) albern findet, kann sich nicht gleichzeitig für Schuhe begeistern.

Mittlerweile habe ich nicht nur gelernt, dass Sekt eine_n ganz weit nach vorn bringen kann, sondern auch, dass sich für Mode zu interessieren sehr viel mehr bedeutet, als bloß stupide die neue Sommerkollektion einzukaufen oder Strasssteinchen auf die Nägel zu kleben. Und selbst wenn das eine_r tut, schließt es nicht gleich in eine Schublade ein. Ich habe bemerkt, dass ich nicht eingeschränkt werde, weil ich mich für Kleidung begeistere, sondern bereichert. Und dass all das nicht nur Spaß macht, sondern durchaus auch politisch sein kann – viel wirkungsvoller, als meine frühere „Selbstzensur“ es je hätte sein können. Wenn ich Lust dazu habe, kann ich zum Beispiel Jogginghose und Lippenstift (und meinetwegen sogar eine Minitasche in Lederoptik) kombinieren, no matter what. Ich spiele mit vermeintlichen Klischees, ohne meine Identität oder sonst was zu verraten. Ich trage, was mir gefällt und nicht, was mir (und meinem Körper) vorgeschrieben wird. Ich kombiniere alte Hemden meines Vaters mit Cheap-Monday-Momjeans oder Kleider mit Turnschuhen und Glitzernagellack. Ich versuche, so gut es geht, gebraucht zu kaufen, meide Ketten wie H&M und Zara, werde aber regelmäßig bei Monki oder Weekday schwach. Ich mache mir liebend gern seltsame Frisuren und habe neulich erfahren, dass ich mit dem sogenannten Half Bun sogar im Trend liege.

Im Grunde mache ich also da weiter, wo ich um die Jahrtausendwende von gesellschaftlichen Stereotypen, Lookism, Peergroups und Mädchenzeitschriften unterbrochen wurde. Mein inneres fünfjähriges Ich, das seit jeher begeistert Hut und Badelatschen zum Glitzerkleid getragen hat, tanzt vor Freude. (Und bis hierher tut es das glücklicherweise gänzlich ohne Strasssteinchen!)